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ich denke gerne nach. Was ich nicht gerne mag, ist, wenn ich dabei gestört werde. Gerade jetzt, in der verstärkt einsetzenden Jahresendzeithysterie, ist dies häufig der Fall. Das Handy brummt. Eine helle Frauenstimme gibt sich als Redakteurin eines bekannten Printmediums zu erkennen und fragt: »Wie hoch ist der Einfluss des Schicksals auf das menschliche Leben, in Prozent ausgedrückt«? Ich bin einen Moment lang sprachlos. Ein Kollege von mir habe gesagt, der Anteil liege bei 80%, was ihr zu hoch erscheine, fährt die Dame fort. Mittlerweile ist meine Merkur/Pluto–Konjunktion im 12. Haus gefechtsbereit. »Der aktuelle Wert liegt bei genau 67,79%«, antworte ich gelassen. Jetzt ist die Dame einen Moment lang sprachlos. Ich lege nach und frage, ob sie noch nie vom »Allgemeinen Schicksals–Index« (ASI) gehört habe. Dieser werde täglich durch eine gezielte Karma–Befragung von 10.000 zufällig ausgewählten Menschenseelen ermittelt. »Die Irrtumswahrscheinlichkeit liegt bei nur 5%«, sage ich im seriösen Ton, »Sie können also ruhig aufrunden und 70% schreiben.« Ob der Wert denn gewissen Schwankungen unterliege, will die Dame noch wissen. »Nach Ereignissen wie dem 11. September 2001 oder der Tsunami–Katastrophe steigt der Wert kurzfristig an«, antworte ich bestimmt, »aber die Varianz beträgt nie mehr als 12,34%, selbst bei strenger Alpha-Fehler-Adjustierung«. »Sie haben mir sehr geholfen«, höre ich die Frauenstimme noch sagen, ehe die Verbindung abbricht. Ich bleibe nachdenklich zurück und komme langsam ins Grübeln.
In einer Welt, in der Ironie als Erkenntnisinstrument nicht funktioniert, möchte ich nicht leben. In einer Welt ohne Astrologie und Philosophie auch nicht. Ich brauche ihren Geist, um ob solcher Anrufe nicht zu verzweifeln.
»Für einen wissenschaftsgläubigen Menschen ist das Schlimmste, dass die Philosophie gar keine allgemeingültigen Ergebnisse hat, etwas, das man wissen und damit besitzen kann«, schreibt Karl Jaspers in seiner Einführung in die Philosophie. »Die Art der in ihr zu gewinnenden Gewissheit ist nicht die wissenschaftliche, nämlich die gleiche für jeden Verstand, sondern eine Vergewisserung, bei deren Gelingen das ganze Wesen des Menschen mitspricht.« Wie lange mir die besagte Dame wohl zugehört hätte, wenn ich auf ihre Frage in diesem Sinne eingegangen wäre? Ihr Anliegen erschien ihr ganz offensichtlich so einfach, dass sie eine einfache Antwort erwartete.
Es ist mein Schicksal, als Astrologe solche Fragen gestellt zu bekommen. Dieses Schicksal nehme ich gerne an, auch wenn es mich oft nachdenklich macht und mein Menschen- und Weltbild mir keine einfachen Antworten erlaubt.
»Philosophie heißt: auf dem Wege sein. Ihre Fragen sind wesentlicher als ihre Antworten, und jede Antwort wird zur neuen Frage«, schreibt Jaspers. Mein Handy klingelt schon wieder. Ich werde rangehen, denn ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass es diesmal jemand ist, der genauso nachdenklich ist wie ich.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,